Von Uwe Niemeier
Ich erzähle keine Weihnachtsgeschichte. Wer dennoch zuhört, der muss sich darin üben, seine Gedanken in Wirklichkeit umzusetzen und dem Geträumten eine Bühne zu verschaffen.
Dann werden Märchen wahr. Auf wundersame Weise. Sie tauchen irgendwann auf, plötzlich, wenn man am wenigsten damit rechnet. Im Regen, im Schnee. Oder im eisigen Wind.
Gestern zum Beispiel, oder war es in der vorigen Woche? Zeit – spielt keine Rolle. Nur der Ort. Hier: Stadthagen. Eine norddeutsche Kleinstadt im Niemandsland zwischen Hannover und Minden. Ein Weihnachtsmarkt, der mit seinen zehn Buden im Stil einer Wagenburg um den Titel des kleinsten im Land konkurriert.
Die Tannenzweige an den Holzständen duften nach Winterwald, heißer Glühwein dampft aus einem blanken Edelstahlkessel. Der Senf auf der Bratwurst dünstet einen scharfen Geruch aus, der sich mit dem zimtzuckrigen Aroma gebrannter Mandeln von Nebenan zu einer wirren Mischung verbindet. Und über alles legt sich ein klebrig-süßer Melodiereigen aus den Boxen eines Kinderkarussells.
Ja, es ist schön hier. Ich spüre zwischen den Fachwerkbauten der Altstadt meinen Erinnerungen nach. An eine Zeit als Kind und junger Mann. Damals, als Stadthagen noch eine pulsierende Kreisstadt am Fuße der Bückeberge war. Als wir in eine Zeit hineinwuchsen, die so bunt schimmerte wie ein leuchtender Regenbogen und so viel Spannendes bot wie ein Hitchcock-Krimi mit einem überraschenden Ausgang.
Die Bückeberge sind noch immer da. Auch der Titel als Kreisstadt im Ländchen Schaumburg-Lippe ist Stadthagen geblieben. Nur mit dem Pulsieren – das ist lange vorbei.
Da stehe ich also auf dem Weihnachtsmarkt. Gestern erst, oder vorige Woche. Eine Hand an der Bratwurst, die andere an der roten Glühweintasse mit der obligatorischen Aufschrift „Frohe Weihnachten“.
Der Wind auf dem Marktplatz pfeift eisig um eine riesige Tanne herum, deren weiße Lichterketten und bunte Geschenkkartons an den Zweigen hin und her schaukeln. Ich spüre die Kälte im Nacken und schlage den Kragen meines Mantels höher. Dann weckt ein kurzes Geräusch meine Aufmerksamkeit. Es kommt von hinten, in meinem Rücken.
Tschiktschik.
Dieser Ton. Nur kurz. Und nur einmal. Ich schaue neugierig in die Tanne hinein. Doch es bleibt still. Nichts zu sehen. Nichts zu hören. Ich will mich schon wieder abwenden, dann – wieder – dieses
Tschiktschik-Tschick-tschicktschick.
Eine perlende Tonfolge von zwei, vielleicht drei Tönen. Nur sehr kurz.
Wieder Stille. Ich schaue, lege meinen Kopf auf die Seite in der Hoffnung, irgendetwas entdecken zu können. Da muss doch was sein!
Hey, du! Ja, genau du. Siehst du mich nicht?
Ich erschrecke. Spricht da jemand zu mir? Aus dem Baum heraus?
Schau genau hin, direkt vor deiner Nase bin ich.
Ich bekomme große Augen. Denn was ich sehe, ist einfach bezaubernd. Im Inneren der dicht gewachsenen Tanne hockt ein kleiner Vogel und greift mit seinen Krallen fest um einen dicken Ast. Sein graubraunes Gefieder hat er lustig aufgeplustert. Der weiche Flaum am Hals und auf der Brust leuchtet in einem orangeroten Klecks, der sich bis zu seinem dicken Bäuchlein hinunterzieht. Es ist der Weihnachtsvogel. Mitten in Stadthagen. Und nur ich kann ihn sehen?
Ich bin´s, der Weihnachtsvogel. Siehst du mich nun?
Ja, ich sehe ihn nun und starre in den Baum. Und mir kommt eine Geschichte von Selma Lagerlöf in Erinnerung. Aus einem Weihnachtsbuch.
1904 hatte die schwedische Schriftstellerin ihre „Christuslegenden“ veröffentlicht. Ein Buch mit kleinen Erzählungen und Adaptionen aus der Bibel. Darunter „Das Rotkehlchen“, Kapitel neun.
Lagerlöf also, sie erzählt.
Gott schuf die Welt, somit auch die Tiere. Mitunter legte Gott dabei ein wenig Ironie an den Tag. So verpasste er dem Esel lange Ohren, schreibt sie, weil dieser sich seinen Namen nicht merken konnte. Gott sagte: Du heißt Esel. Esel Esel. Und zog dabei – na, wo wohl? Eben. Die Ohren. So kam´s mit den langen Dingern.
Dann waren die Vögel an die Reihe. Der Schöpfer pinselte dabei so viel Farbe ins Gefieder, dass es ihm eine Freude gewesen sein muss. Doch, was für ein Pech! Wie er so pinselte und allen seinen Odem einhauchte, fand er beim letzten kleinen Hüpfer den Farbtopf schon fast leer vor. Nur Grau war übrig.
Egal, dachte er wohl, und sprach mit einem schelmischen Lächeln.
Rotkehlchen sollst Du heißen.
Rotkehlchen? Na, das war ein harter Schlag für den kleinen grauen Freund. Er flatterte aufgeregt hin und her, sah um sich herum bunte Papageien, Hähne mit roten Kämmen, entdeckte bunte Schmetterlinge, schillernde Goldfische und leuchtende Rosen. Und er? Grau! Einfach nur Grau!
Also flog das Rotkehlchen zurück zum Chef, mit der Bitte um Nachbesserung. Der aber hatte statt bunter Farbe nur einen Rat parat, und der lautete – jedenfalls sinngemäß:
Verdien´ Dir Deine roten Federn!
Leicht gesagt. Wenn man so klein ist. Und überhaupt. Das Rotkehlchen sang und trällerte, was das Zeug hielt. Aber das schien nicht der richtige Weg, um sich seine Zusatzfarbe zu verdienen.
Tatsächlich dauerte es recht lange, eigentlich sogar sehr lange. Erst viel später, die Nachkommen nisteten gerade in Jerusalem, sollte sich das Schicksal erfüllen.
Ein Hügel vor der Stadt. Eine johlende Meute. Eine Kreuzigung. Ein Mann mit spitzer Dornenkrone auf dem Haupt. Blut strömt über sein Gesicht. Das graue Rotkehlchen zeigt Mitleid mit dem Gepeinigten. Es fasst allen Mut zusammen, flattert zum Kreuz und pickt einen schmerzenden Stachel aus dessen Stirn. Blut tropft auf sein Gefieder und färbt die Brust.
Jesus aber öffnet seine Lippen und spricht:
Um Deiner Barmherzigkeit willen hast Du nun errungen, was Dein Geschlecht seit Erschaffung der Welt erstrebt hat.
Soweit also Frau Lagerlöf. Von Jerusalem zurück nach Stadthagen, auf den Markt. Da stehe ich also vor diesem blinkenden Tannenbaum mit dem Weihnachtsvogel, der zu mir spricht und eine Erinnerung zurückbringt. Na klar, ich weiß, Vögel sprechen nicht.
Aber dieser – vielleicht doch?
Und während ich noch das Rotkehlchen anstaune, werde ich durch neue Besucher am Glühweintisch kurz abgelenkt. Ja, hier ist noch Platz, klar. Und guten Appetit.
Ich drehe mich wieder um. Er ist weg! Habe ich nur geträumt? Ich überlege ein wenig, bis ich seine Botschaft verstehe, die da lautet:
Manche Dinge brauchen Zeit, um gut zu werden.
Eine Botschaft, die wie kaum eine andere in unsere Weihnachtszeit passt.
Doch, wie gesagt. Ich erzähle keine Weihnachtsgeschichte. Wer dennoch zugehört hat, der muss sich darin üben, seine Gedanken in Wirklichkeit umzusetzen und dem Geträumten eine Bühne zu verschaffen. Dann werden Märchen wahr. Auf wundersame Weise. Sie tauchen irgendwann auf, plötzlich, wenn man am wenigsten damit rechnet.
Im Regen.
Im Schnee.
Oder im eisigen Wind.